Gerald Stempfel und Thorsten Bleich

CD: Improvisations sur les suites en la mineur de Marin Marais

Arabesken unter dem Maulbeerbaum

Alte Quellen und Handschriften, gut erhaltene Originalinstrumente, ermöglichen uns heutzutage einen direkten Zugang zur Alten Musik. Leider ist keine dieser „Zeitmaschinen“ geeignet genug, uns ein Bild von der hohen Kunst der Improvisation zu vermitteln. Auch die begeisterten Berichte über die musikalischen Höhenflüge eines J.S. Bachs an der Orgel oder eines Mozarts am Klavier, lassen uns höchstens bedauern, zu jung zu sein, um dabei gewesen zu sein. Allerdings bei der vorliegenden Interpretation fühlt man sich lebhaft zurückversetzt in die Zeit und das Musizierzimmer Marin Marais’ (1656-1728), der als einfacher Sohn eines Schusters geboren, zum größten Gambisten seiner Epoche wurde.

Marais’ berühmte Improvisationskunst ist vielleicht erwachsen aus seiner heimlichen Belauschung des mysteriösen Sieur de Sainte Colombe. Die Anekdote, daß Marais, der von seinem Lehrer entlassen wurde, weil dieser sich von ihm in den Schatten gestellt fühlte, diesen unter einem Maulbeerbaum in seinem Baumhaus belauscht hatte, hat die Jahrhunderte überdauert.

Es ist nicht gesagt, daß Sainte Colombe die Cocons des Seidenspinners in seinem Baum gesammelt hat, um daraus Stoffe zu weben. Auf jeden Fall hat der junge Marais dort genügend „Stoff“ gefunden, um sich unter den königlichen Seiden einzureihen, wo er alsbald Gambist am Hofe Versailles wurde und regelmäßig zu den „Soupers du Roy“ spielte. Auch das geschulte Ohr König Ludwigs XIV mußte ihn mit immer wieder anderen Variationen über die Motive der „Sautillante“ oder der „Muzette“ gehört haben, die schließlich 1717 im 4.Buch festgehalten wurden. 1725, im Alter von fast siebzig Jahren, beweist Marais mit der „Petit Caprice“oder „La Mariee“, daß seine Inspiration noch immer nicht versiegt ist – allerdings bedarf es sehr viel Fantasie, um diese Stücke so wiederzugeben wie sie vermutlich in den Suiten des Königs erklungen sein mußten, oder, wie Marais sie von seinem Lehrer in der Jugend erhalten hat, noch bevor er unter dessen Hütte verjagt wurde. Vielleicht sind einige der fast ausschließlich in a-moll gehaltenen Improvisationen auf dieser CD nicht ganz historisch: Hier wenden sich die Interpreten mit ihrer künstlerischen Freiheit an das zeitlose Publikum. Während für gewöhnlich eine zweite Gambe vorgesehen war, unterstreicht die Begleitung der Theorbe auf einigen wenigen Saiten die Ausdrucksstärke der solistischen Gambe durch ihre Diskretion und Feinheit – gleich einem Windhauch in den Zweigen des Maulbeerbaums.